Gucken erwünscht

Bis spätestens 21.59 Uhr muss heute so mancher für sich eine Gretchenfrage beantworten: gucken oder nicht gucken. Keine einfache Entscheidung nach all dem, was im Vorfeld der Fußball-WM in den Medien hochgekommen ist: die Proteste breiter Bevölkerungsgruppen gegen Verschwendung und sich verschlechternde soziale Bedingungen, die teilweise äußerst brutal von der Polizei niedergeschlagen wurden. Ein Fußball-Weltverband als WM-Vergeber, der sich fast schon nicht mehr die Mühe macht, unlautere Praktiken bei der Vergabe zu verstecken.  Kann man da noch unbeschwert einfach Fußball gucken, ohne sich dem System zu unterwerfen und es dadurch zu stützen? Man kann. Und man sollte sogar.

Es ist also die Frage nach dem Boykott. Ja oder Nein. Anfang des Jahres hatten wir uns diese Frage schon einmal gestellt, als die Krise in der Ukraine gerade ihren Anfang nahm. Damals wurden die Olympischen Winterspiele in Sotchi nicht so umfassend boykottiert wie später die Paralympics. Letztendlich eine Aktion, die zu Lasten der behinderten Sportler ging, die eh schon im Schatten der Nicht-Behinderten Sportler stehen.

Viele tun sich bei der Beantwortung dieser Frage so unnötig schwer, schwanken zwischen einem Ja, einem Ja, aber und dann doch wieder einem Nein, argumentieren häufig mit Symbolik, die nur etwas ausdrücken, aber keine negativen Auswirkungen in die falsche Richtung haben soll. Dabei werden hier zwei Dinge vermischt, die man in solchen Situationen trennen sollte: Inhalt und Situation.

Ja, es geht tatsächlich in erster Linie um den Sport. Das Spiel. Den Spaß. Das Wetteifern. Das Mitfiebern. Tolle Kombinationen und sehenswerte Tore. Dies ist eine Sache. All das findet innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen, der Situation, statt, die bestimmte Einflüsse auf die Menschen ausübt. Das ist die andere Sache.

Wie man aus der Zwickmühle der Entscheidung herauskommt? Dabei sein, aber nicht darin verharren und aufgehen. Sich nicht von dem Spiel ablenken lassen und darüber die Probleme der Menschen ausblenden, sondern kritisch die Entwicklungen des Fußballs begleiten, immer wieder thematisieren, dass z.B. der Sport Schaden anrichtet an Sportlern, dem Sport selbst und dem gesellschaftlichen Umfeld.

Dies alles ist mit offenen Augen anzuprangern. Aber auf keinen Fall ein Grund für einen Boykott. Geben wir den Sport eine Chance und den Ausnutzern keinen Millimeter weiter an Boden.