Auf diese Episode aus den Anfangstagen meines Berufslebens kann ich wirklich nicht stolz sein. Immerhin hätte hier ein ganzes Land vor die Hunde gehen können. Viele Leute hätten ihre Jobs verloren. Unmengen an Geld wäre vernichtet worden. Traditionsunternehmen hätte es vom Markt gefegt. Aber zum Glück hat meine Firma rechtzeitig die Reißleine gezogen und Schlimmeres verhindert. Mein Vergehen bei der ganzen Sache, so simpel wie hinterlistig: ich war in die falsche Wohnung gezogen.
Auf den ersten Blick hatte meine damalige Wohnung nichts Verdächtiges an sich. Sie lag im Zentrum von Düsseldorf, fünf Minuten von der Königsallee, acht Minuten vom Hauptbahnhof und zehn Minuten von der Altstadt entfernt. Zudem war sie noch bezahlbar. Eigentlich kein Grund, Böses zu vermuten. Oberflächlich betrachtet. Allerdings lag meine Wohnung auch nur neun Minuten von meinem Arbeitsplatz entfernt. Neun Minuten! Inklusive Warten an den drei Ampeln, die auf dem Fußweg lagen. Damit trug ich unweigerlich – aber unwissentlich – zum wirtschaftlichen Niedergang unseres Landes bei.
Bewusst wurde es mir erst als ich später herausfand, wer in unserer Firma tatsächlich zum wirtschaftlichen Aufschwung beitrug. Und das waren keineswegs die Vorstände oder Geschäftsführer, die lukrative Aufträge an Land zogen. Und schon gar nicht die Vertriebsmitarbeiter, die sich um den Absatz unserer Produkte bemühten. Ja und bestimmt nicht die Produktionsmitarbeiter, dank denen wir überhaupt etwas hatten, um es zu verkaufen. Diejenigen, die den wirtschaftlichen Wohlstand unseres Landes hochhielten, waren all jene Mitarbeiter, die täglich zur Arbeit pendelten.
Es muss wohl sehr naiv gewirkt haben, als ich diesen Kollegen bei kurzen Plaudereien aufs Brot schmierte, dass ich ganz in der Nähe wohnte, zu Fuß zur Arbeit ging und mir dadurch jeden Tag knapp 1,5 Stunden mehr Freizeit blieb, die sie im Berufsverkehr verbrachten. Ihre tägliche Wirtschaftsleistung verkannte ich vollkommen, als sie davon sprachen wie lange sie für die Fahrt zur Arbeit brauchten, wie früh sie aufgestanden waren und wie lange es abends wieder nach Hause dauern würde. Tja, die Ahnungslosigkeit von Berufsanfängern!
Ich weiß nicht wie lange es so ging, aber vermutlich wurden irgendwann Berichte über mich erstellt, die zeigten, wie groß der durch mich verursachte Schaden inzwischen geworden war. Dann zog meine Firma Konsequenzen und verlagerte die Hauptverwaltung von Düsseldorf nach Essen. Dass dies angeblich nichts mit mir zu tun hatte, sondern um die Verwaltungskosten zu reduzieren, halte ich für eine absurde Behauptung von Verschwörungstheoretikern.
Seither bin ich in der Berufswelt angekommen und zähle zu denjenigen, die etwas für das Wachstum in Deutschland tun, indem sie sich in die hunderte Kilometer Berufsverkehrstau reinstellen. Dass dies keine abstruse Behauptung ist, sondern wissenschaftlich bewiesen, zeigt ein Artikel aus der April Ausgabe des National Geographic. Denn die Wissenschaft hat herausgefunden, dass Stau ein Wohlstandsindikator ist und es der Wirtschaft besser geht, je mehr Staus es gibt.
Wie naiv mein Verhalten als Berufsanfänger doch war! Zu glauben, es ginge darum dem Berufsverkehr aus dem Weg zu gehen, diese Zeitverschwendung nach Möglichkeit soweit zu minimieren wie nur möglich. Quatsch! Alles Hirngespinste von Leuten, die nicht begriffen haben, dass Wirtschaftswachstum nicht auf Spaß und Annehmlichkeiten gründet, sondern auf Entbehrungen und Einschränkungen. Und wo gibt es alles in solcher Konzentration wie beim täglichen Berufsverkehr? Inzwischen fühle ich mich besser, obwohl ich ja “gegen den Strom” fahre und mit neidischem Blick die Blechlawinen bewundere, die sich morgens nach Düsseldorf rein- und am frühen Abend in Richtung Ruhrgebiet hinausquälen. Mein Beitrag zum BPI wirkt da im Vergleich so gering, dass ich mich kaum traue, mich auf die gleiche Stufe zu stellen wie diese Wirtschaftsmärtyrer.
Gleichsam habe ich dazugelernt und weiß jetzt, wo die wirklichen Gefahren für das Wirtschaftswachstum lauern. Nicht in den unkontrollierten Finanzprodukten gieriger Banker. Nein! In den Leistungsverweigerern, die Teilzeit oder noch schlimmer im Home Office arbeiten wollen und sich dadurch dem täglichen Berufsverkehr entziehen. Alles unter dem hanebüchenen Vorwand Job und Familie besser vereinbaren zu wollen. Auf Kosten unserer Wirtschaft? Unverantwortlich!
Wem dieses Land wirklich am Herzen liegt und wer hier etwas bewegen will, der sollte es so machen wie tausende andere jeden Tag: einfach hintenanstellten.